Industrie 4.0 – jetzt übernehmen die Maschinen
Algorithmen, Daten und Modelle sind kein Selbstzweck, denn aus ihnen sollen am Ende Effizienzsteigerungen in der eigenen Fertigung resultieren oder neue Produkte bzw. Geschäftsmodelle entstehen. Allerdings warnen wir davor, überhastet neue ML-basierende Produkte zu entwickeln, ohne die Gesamtanlageneffektivität im eigenen Betrieb auf mindestens 90 Prozent zu erhöhen. In diesem kurzen Auszug aus unserem Buch „KI in der Industrie“ stellen wir drei Anwendungen vor.
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Die sprechende Drehmaschine
Sprachsteuerungen haben durch die Tech-Konzerne aus den USA Einzug in die Privathaushalte gehalten. Die meisten Anwendungen basieren auf den Forschungen von Professor Sepp Hochreiter und Professor Jürgen Schmidhuber. Doch manche Entwickler aus der Consumer-Industrie zieht es jetzt in die Industrie.
Ein prominentes Beispiel dafür ist Omnibot aus Oldenburg. Jeff Adams, ehemaliger Leiter des Teams, das die Sprachtechnologie von Amazon Alexa entwickelte, stieg 2018 als Mitgründer und leitender Wissenschaftler bei der Konversations-KI-Plattform Omnibot ein. In der Pressemitteilung hieß es damals: Zusammen mit dem Team seines Forschungs- und Entwicklungsunternehmens Cobalt Speech and Language bringe er führendes Technologiewissen sowie die von Cobalt entwickelten Sprachtechnologien mit ein. Dadurch sei Omnibot in der Lage, eine Sprach- und Konversations-KI-Plattform mit vollständig hauseigener Technologie anzubieten – als erstes Unternehmen dieser Art in Europa, erklärten die Oldenburger selbstbewusst.
Und die Industrie entdeckt die Sprachlösung von Omnibot für sich – beispielsweise in der Instandhaltung. Der Anwender stellt eine Frage an die Anlage und sie antwortet, welches Teil defekt ist, geht den Wartungsablauf mit dem Menschen durch und unterstützt ihn durch Bildanzeigen. Die Herausforderung: Das System muss auch Dialekte verstehen können. Das bedeutet, der Bot (automatisch arbeitendes Computerprogramm) muss also auch mit Dialektdaten trainiert werden. „Unser Alleinstellungsmerkmal ist unser Wissen. Wir haben über 25 Jahre Erfahrung mit Sprache“, erklärt Jascha Stein, CEO von Omnibot, im Podcast-Gespräch. Darüber hinaus wollen es die Norddeutschen den Usern so einfach wie möglich machen, eine Sprachsteuerung zu implementieren. Über eine grafische Oberfläche könnten auch Nichtprogrammierer einen komplexen Bot erstellen, versichern die Entwickler. „Und der Industrieanwender kann bidirektional mit der Maschine kommunizieren und Sensordaten abrufen“, erklärt Jascha Stein. Die von Sepp Hochreiter geforderte „sprechende Drehmaschine“ kommt. Industrieunternehmen, die die Technologie nutzen, wollen aber in den meisten Fällen die Sprachplattform vom Internet getrennt wissen. Sprachassistenz-Ökosysteme, die ihre Daten im lokalen Rechenzentrum verarbeiten, gewinnen an Bedeutung in der Industrie. Das kann Omnibot nach eigenen Aussagen liefern. „Vertrauenswürdige KI ist unser Produkt“, fasst Jascha Stein zusammen. Sichere Sprach-Setups für die Industrie – auch im Ausland.
Die Instandhaltung von Maschinen und Anlagen definieren auch die Mitarbeiter von Workheld als Zielmarkt. Die Österreicher haben einen Sprachassistenten für die Instandhaltung von Anlagen und Maschinen. „Der Instandhalter spricht mit der Maschine“, erklärt Benjamin Schwärzler, der Produktionsmanagement in Wien studiert hat, im Podcast-Gespräch auf der Hannover Messe. Die Intelligenz der Workheld-Lösung steckt in einem unscheinbaren Tablet. Der Techniker kommt zur Anlage, die Anlage erkennt das Tablet und die Unterhaltung startet. „Das könnte sich dann beispielsweise so anhören: ‚Bei Anlage Nr. 5 gibt es in der Y-Achse Probleme mit der Spindel.‘ Das System durchsucht dann, welche Störungen es gegeben hat – und antwortet vielleicht: ‚Vor zwei Jahren gab es schon dasselbe Problem‘, gibt Lösungsvorschläge und sagt auch, wer damals die Störung behoben hat. So kann man sich dann gleich an den richtigen Kollegen wenden, der sich mit dem Problem bereits auskennt.“
Oder: Die Maschine meldet aktuelle Probleme bei der Pumpe und die Software bietet dem Techniker sofort Ausbaupläne oder sucht in der Datenbank nach Erfahrungen anderer Kollegen. Die Reparaturaufträge laufen in ein IoT-System, die Basis für die sprechende Maschine. „Wir sind nicht nur Problemlöser, sondern auch ein interaktives Wissensmanagement“, unterstreicht Benjamin Schwärzler, der das Unternehmen vor vier Jahren gründete. Das System speichert auch die Kommunikation mit dem Techniker. „Das System merkt sich Kunden- und Projektnamen, ordnet Informationen zu und erweitert auch ständig sein Sprachverständnis“, ergänzt Benjamin Schwärzler. Die Idee zu der „sprechenden Maschine“ kam ihm und seinem Team durch ihr erstes Produkt: ein klassisches Instandhaltungstablet mit Bauplänen und Wissensdatenbank. „Wir haben unsere Nutzer danach genau beobachtet und stellten schnell fest, dass die Techniker vor Ort ungern Prüfberichte oder Dokumentationen schreiben“, blickt Schwärzler zurück. Auch Spesen wurden nur selten korrekt eingetragen. „Das muss leichter gehen.“ „Speech to Text“ war die Lösung und gleichzeitig eine schwierige Aufgabenstellung. Heute kann der User seine Prüfberichte dem System diktieren, Besonderheiten direkt per Sprache melden. Jede gesprochene Dokumentation reichert die Lösung auch inhaltlich immer weiter an und andere Mitarbeiter oder neue Kollegen profitieren davon.
Die Technologie des Jungunternehmers basiert auf der einen Seite auf bekannten Sprachassistenten wie Alexa, Siri und Co. Aber die größte Herausforderung liegt in der Entwicklung eines Frameworks für die „Intent Recognition“ (Absicht-Erkennung). Zu Deutsch: Die Maschine, die App, das Tablet oder der Bot muss verstehen, was der User, der Techniker oder Instandhalter genau will, muss die Sprache erkennen und sie in Text umwandeln und gegebenenfalls darauf reagieren. „Wir entwickeln mit unseren Kunden vor Ort die Frameworks für die Maschinen und nutzen dafür unterschiedliche NLP-(„Natural Language Processing“-)Technologien“, erklärt der Vorarlberger. NLP beschreibt Technologien, die auf ML basieren und das Entwickeln von Features zum Verstehen natürlicher Sprache in Apps, Bots und IoT-Geräten ermöglichen.
Mit dem Sprachverständnis kam der Durchbruch. 39 Euro pro User pro Monat kostet Workheld ‒ auch mit SAP-Anbindung, wenn gewünscht. Ein deutscher Autobauer nutzt die Technologie bereits mit dem Wiener Startup zusammen. Wettbewerber sind vor allem Augmented-Reality-Anbieter. Die Vorteile einer Sprachlösung: „Wir brauchen keinen Helm, keine Brille, keine großen Akkus und die Augen ermüden bei unserer Lösung auch nicht und trotzdem sind auch bei uns die Hände frei, um damit zu arbeiten“, fasst der Gründer zusammen. Und der Lärm in der Fabrik, verstehen sich Techniker und Maschine da? „Wir arbeiten in rauen Umgebungen auch mit Headsets. Damit machen wir gute Erfahrungen“, berichtet Benjamin Schwärzler.
KI im 3D-Druck
In den letzten Jahren kamen viele Industrieanwender an 3D-Druck-Verfahren kaum vorbei. Ein Hype ähnlich dem KI-Hype entstand. Dieser sei etwas abgeflacht, bemerkt auch Peter Leibinger. Der Trumpf-Vizechef hält an seinem Umsatzziel fest: In fünf bis sieben Jahren rechnet er mit 500 Millionen Euro. 3D-Druck werde „sich durchsetzen, aber nicht so disruptiv, dass es keine anderen Verfahren mehr geben wird“, erklärte er in einem Gespräch zur Messe Formnext.
In einem Kommentar schrieb Robert Weber: Additiv fertigen, oder 3D-Druck, bedeutet, neue Produkte zu entwickeln, neue Geschäftsmodelle zu testen, neue Werkstoffe und ihre Eigenschaften kennenzulernen, neue Hardware zu bedienen, konstruieren neu zu lernen und die Prozesskette zu automatisieren, zum Kunden zu vernetzen und zu digitalisieren. Komplexer geht es kaum. Und dafür braucht es neben dem Roboter vor allem auch den Menschen, denn nur durch ihn entsteht der digitale Zwilling aus der Konstruktion. Und Charles Hull, der Miterfinder der Technologie, hat deshalb recht, wenn er „Einfallsreichtum und Weitsicht, Leidenschaft und Ausdauer“ fordert, denn das wird anstrengend für den Menschen und den industriellen Prozess.
Die Automatisierung der Druckprozesse ist für viele Unternehmen immer noch eine Herausforderung, manche sind aber schon weiter und nutzen KI Methoden. Ein Beispiel dafür ist das Unternehmen Protiq aus Blomberg, eine Ausgründung von Phoenix Contact. Warum nutzt das Unternehmen Deep-Learning-Methoden?
Protiq produziert sehr viele individuelle Teile in seinen Druckern. Die Blomberger nutzen dazu das Selective-Laser-Sintering-(SLS-)Verfahren. Der Vorteil dieser Technologie: Anwender können in einem Bauraum nicht nur ein Bauteil, sondern eine beliebige Anzahl unterschiedlicher Bauteile herstellen. Da diese dreidimensional im Raum geschachtelt sind, kann der Bauraum besser genutzt werden. Vom Kundeninterface im Netz bis zum Drucker ist bei Protiq eigentlich alles automatisiert. Nur eben den Bauraum muss noch ein Mitarbeiter freigeben, sprich das fertige Produkt herausnehmen, nachbearbeiten und in den Versand schicken. Die Zuordnung dieser Teile zum jeweiligen Kundenauftrag war in der Vergangenheit mit einem hohen Aufwand verbunden. An dieser Stelle hat ein Algorithmus das Problem gelöst. Zusammen mit der Universität Paderborn entwickelten die Ingenieure eine neuartige Technologie, die diese Bauteilerkennung mittels Deep-Learning-Methoden automatisiert. Tobias Nickchen war vonseiten der Forschung für das Projekt mitverantwortlich. „Unser System muss jeden Tag neue Bauteile erkennen“, unterstreicht er im Podcast-Gespräch die Herausforderung. Deep-Learning-Systeme sind in der Lage, anhand von bestehenden Trainingsdaten zahlreiche nichtlineare Probleme selbstständig zu erlernen. Das manuelle Feature Engineering entfällt somit. Auf der Grundlage der Trainingsdaten eignet sich das System stattdessen selbstständig sogenannte Deep Features an. Diese werden im Fall der Sortierung so verinnerlicht, dass sich die einzelnen Objekte durch die Features sehr gut differenzieren lassen.
Die Bauteilerkennung in der klassischen Serienfertigung muss im Vorfeld meist händisch definierte Produkte oder Bauteile erfassen. Indem die KI bei Protiq sich in jeder Produktion selbstständig an die neuen Bauteile anpassen muss, lernt das System ständig dazu. Die Datenbasis dazu stellen 3D-Abbildungen aus CAD-Daten dar. „Damit wird das System trainiert“, so Tobias Nickchen.
In der Produktion gleicht also die KI mit Kameratechnik die realen Bauteilbilder mit den Aufträgen ab und erkennt so deren Zugehörigkeit. Anschließend können für jeden Auftrag die entsprechenden Bauteile auf der Scanfläche visuell markiert werden. Der Vorteil: Das System sortiert schnell, minimiert den manuellen Aufwand und reduziert Fehler – ein Gewinn in der digitalen wie realen Prozesskette.
KI als Assistenzsystem
Sie kennen die Herausforderung: Wenn Sie einen neuen Schrank selber aufbauen wollen, dann öffnen Sie die Pakete aus dem Möbelhaus und verlassen sich darauf, dass die Werkstücke, die Einlegeböden, die Rückwand oder die Schranktüren die richtige Größe für den Aufbau haben, sie also richtig zugeschnitten, sortiert und verpackt wurden. Damit der Schrank den Käufer erfreut, unterstützen ML-Methoden die Hersteller der Möbel.
Benedikt Buer ist einer der Entwickler des Assistenzsystems Intelliguide von Homag. Homag entwickelt und fertigt Holzbearbeitungsmaschinen und Benedikt Buer arbeitet im Bereich Palettenaufteiltechnik. Intelliguide setzt Homag an der Säge ein. Der Prozess: Der Mitarbeiter führt eine Holzplatte in die Säge ein. Die Maschine zersägt die Platte nach den Vorgaben des Schnittplans und die fertigen Werkstücke müssen nach der Fertigung richtig sortiert werden. Bei der Versorgung der Säge und bei der Sortierung können Fehler passieren. Deshalb haben die Entwickler ein kamerabasierendes Assistenzsystem entwickelt. Dieses weist den/die BedienerIn mittels Laserprojektor darauf hin, wenn er die Platte falsch eingelegt hat, wenn er Werkstücke falsch positioniert oder an den falschen Stellen den Arbeitsprozess starten will.
Die Kamera detektiert die Werkstücke und analysiert sofort in der Maschine, ob die Platte richtig eingelegt oder sortiert wurde. Die Entwickler sprechen von einer Embedded Intelligence. Der Algorithmus hat an Beispielen gelernt, wie ein Brett aussieht. Er kann dann eine Aussage darüber treffen, wie viele Bretter auf dem Bild sind, an welcher Stelle sie liegen und wie groß sie sind. Homag trainierte den Algorithmus mit vielen Beispieldaten. Er bringt sich den Zusammenhang selber bei, heißt es bei Homag. Die Entwickler positionierten im Handlingbereich Werkstücke und gaben dem Algorithmus die Information: „Hier siehst ‚du‘ die Werkstücke, die Farben an diesen Positionen und in diesen Größen.“ Das Training des Systems fand in der Cloud statt, weil große Datenmengen im Training anfielen. Homag nutzte ein neuronales Netzwerk. „Das ist eine spezielle Art Algorithmus“, erklärt Benedikt Buer. Das neuronale Netzwerk nimmt ein Bild und teilt es in mehrere Gruppen ein, jeden Pixel in mehrere Gruppen – das ist ein Klassifikator. Jeder Pixel des Bilds wird bewertet, ob es ein Pixel ist, der zu einem Werkstück gehört, oder ein Pixel, der nicht zu einem Werkstück gehört. Für diese Klassifikatoren gibt es viele Beispiele. „Wer sich dafür interessiert, sollte sich mit Segmentierern beschäftigen. Eine erste Anregung liefert beispielweise Google Scholar“, berichtet Benedikt Buer. „Man muss aber selber noch Hirnschmalz reinstecken. Es ist aber ein guter Startpunkt.“
Was ist der Vorteil des Systems? Die Gesamtanlageneffektivität steigt, es wird weniger Ausschuss produziert, es werden weniger Fehler gemacht und die Homag-Kunden können Mitarbeiter schneller einarbeiten. Beteiligt waren in dem Projekt weniger als zehn Mitarbeiter von Homag. Diese kamen aus den Bereichen Mechanik, Elektronik, Software und ML. „So ein Projekt ist anspruchsvoll und wenn man als Unternehmen noch keine Erfahrung mit ML-Projekten hat, dann sollte man sich einen externen Experten dazuholen, der einem bei den ersten Schritten hilft“, rät Benedikt Buer.
Lesen Sie den Originalartikel hier. Mehr zum Thema KI können Sie sich im KI-Podcast von Rober Weber nachhören.