Handel im Wandel

Handel im Wandel

Auf den stationären Handel stürmt alles zugleich ein: Corona, Digitalisierung, neue Mobilität. Architekt Caspar Schmitz-Morkramer hat dazu eine Studie vorgelegt.

 

 

Sie sagen, wir sind mit Highspeed in der Digitalisierung angekommen. Offenbart das gerade auch drastisch den verpassten Anschluss des Handels an das Thema?


Leider ja! Aber wir haben nicht nur im Handel den Anschluss an die Digitalisierung verpasst. Das trifft in ganz Deutschland auf fast alle Bereiche zu. Viele Versäumnisse werden jetzt offenbar und Corona wird als Ausrede noch oft hinhalten müssen. Für den Handel ist es allerdings wesentlich dramatischer, da das erste Mal seit 1922 ein richtiger Shutdown beschlossen wurde. Somit gibt es nicht nur Umsatzeinbußen, sondern einen Totalausfall. Das ist einmalig und auch nicht vorhersehbar, ein sogenannter Black Swan. Durch die Verunsicherung der Verbraucher brechen aber auch die Umsätze bei den Online-Händlern ein. Die Gewinner nach der Krise werden genau die Businessmodelle sein, die digitale und stationäre Welt vereinen können.

 

Sie haben vor einem Jahr über das Thema Handel im Wandel – retail in transition eine ganze Studie angefertigt. Sie klingt, wie für die Krise erfunden. Waren damals schon die Lücken sichtbar, die heute schmerzlich auffallen?


Natürlich haben wir eine Krise dieser Art nicht ansatzweise vermutet. Allerdings ist der Handel schon seit vielen Jahren in einer seiner dramatischsten Umbruchphasen. Die Digitalisierung hat dem stationären Handel schwer zugesetzt. Die alten Player sind aber nie die, die die eigene Disruption vorantreiben können. Insofern werden viele Akteure – wie in allen Wirtschaftszweigen – durch neue ersetzt. Die Digitalisierung hat die Bedürfnisse an den stationären Handel grundlegend geändert. Weg vom Bedarfseinkauf hin zum Erlebnis. Hierin steckt aber auch eine große Chance für unsere Städte. Handel wird dort florieren können, wo es ein abwechslungsreiches und vielfältiges Angebot gibt. Genau diese Vielfalt ist uns in unseren Innenstädten in den letzten 50 Jahren verloren gegangen. 

 

Die Corona-Krise legt derzeit die Wirtschaft und das soziale Leben in ganz Deutschland lahm. Für die Arbeitswelt ergeben sich neue Herausforderungen – Homeoffice etabliert sich als neue Arbeitskultur für viele Deutsche. Wird sich diese dezentrale Arbeitsgestaltung auch nach der Krise verfestigen? Was bedeutet das für die Entwicklung der Büroimmobilien – aber auch für den Wohnungsbau mit Homeoffice-Qualität?


Eines ist klar: Vieles von dem, was sich jetzt bewährt hat, werden wir auch beibehalten. Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Zudem hat das Experiment Remote Arbeiten in vielen Unternehmen besser geklappt, als viele es vermutet haben. Weiterhin glaube ich an eine Sehnsucht und Notwendigkeit nach einem Arbeitsplatz. Die Entwicklung der letzten Jahre, die den Arbeitsplatz zu einem Erlebnisort verwandelt hat, trifft den Zahn der Zeit. Aufgrund der Möglichkeiten der Digitalisierung in vielen Bereichen von überall aus arbeiten zu können, müssen sich die Arbeitgeber überlegen, wie attraktiv gestalte ich meine Arbeitsplätze, damit meine Mitarbeiter gerne und oft ins Büro kommen. Ich kann mir für die Zukunft aber auch dezentralere Strategien der Unternehmen vorstellen.

Arbeitsplätze sollten dort geschaffen werden, wo Menschen sind, wo sie gut und schnell hinkommen können. Da der Arbeitsplatz nicht mehr an einen speziellen Tisch gebunden ist, kann das dezentral auch an ganz unterschiedlichen Orten stattfinden. Eine Herausforderung für den Wohnungsbau.

 

Die Digitalisierung ist auch bei uns schlagartig in den Mittepunkt gerückt. Online-Plattformen und -Dialoge, Webinare schießen wie Pilze aus dem Boden. Auch im Bereich des Planens und Bauens war die Digitalisierung eher schwierig – siehe etwa die zähe Einführung von BIM. Sehen Sie einen Durchbruch durch die jetzige Zusammenarbeit aller Beteiligten übers Netz und auf digitalen Wegen?


Hier ist in den letzten Wochen wirklich Erstaunliches passiert. Während wir an einigen Projekten, vor allem mit Bauherrn und Planern, die quer über die Republik verstreut waren, schon in der Vergangenheit sehr erfolgreich einen Großteil der Besprechungen in digitalen Räumen absolviert haben, ist dies nun bei allen Projekten der Fall. Nicht einen Markstein unserer Projekte mussten wir aufgrund der Krise verstreichen lassen. Und gerade bei Projekten in BIM müssen Besprechungen am Modell erfolgen. Da ist es fast besser, wenn jeder auf seinen eigenen Rechner zurückgreifen kann. Auch den Behörden muss ich ein großes Lob aussprechen. Hier hat man sich schnell auf Videokonferenzen umgestellt und die Mitarbeiter sind im Homeoffice für uns erreichbar.
Einziger Wermutstropfen: Wir haben in Deutschland den Ausbau unserer digitalen Netze verschlafen. Und so wird jetzt wirklich offenbar, wie schlecht unser Netz teilweise noch ist.

 

Wie werden Veränderungen der individuellen Mobilität – elektrisch, vernetzt, shared – auf den Handel durchschlagen?


Der stationäre Handel ist dringend auf eine gesunde Mischung aus ÖPNV und Individualverkehr angewiesen. Die Gewichtung ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich. In Ulm zum Beispiel lebt die Innenstadt viel stärker vom Umland. Somit kommen wesentlich mehr Kunden mit dem PKW in die Stadt, als es beispielsweise in Berlin der Fall ist.

Es ist keine Lösung, Autos kategorisch zu verdammen, ohne vorher alternative Konzepte anbieten zu können. Der öffentliche Nahverkehr muss attraktiver und sicherer gestaltet werden. Hierfür sind eine höhere Taktung, ein attraktiveres Pricing und – so spießig das klingen mag – Sauberkeit und Sicherheit maßgebend.

 

Und Sharing?


Natürlich sind auch Sharing-Angebote von großer Bedeutung. Sie minimieren zwar nicht den PKW-Verkehr, verringern aber den ruhenden Verkehr. Die E-Bikes wiederum schaffen einen erweiterten Radius, in dem die Stadt erreichbar ist. Mehr Menschen kommen somit mit dem Fahrrad anstatt dem PKW oder dem ÖPNV in die Städte. Nur wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass ich mein E-Bike sicher abstellen kann. Die Holländer machen vor, wie Fahrradparkhäuser attraktiv in die Stadt integriert werden können. Und zu guter Letzt sorgt elektrifizierter Verkehr für eine deutliche Verbesserung der Luft in den Städten.

 

Was bedeutet die neue Mobilität für den Städtebau insgesamt?

Die neue Mobilität eröffnet große Chancen. Wenn wir zum Beispiel an autonome Fahrzeuge denken, bedeutet das, dass der ruhende Verkehr sehr stark entlastet wird. Nicht nur die Straßenränder werden von Blechlawinen befreit, sondern auch die Anzahl an notwendigen Stellplätzen in Garagen wird sich minimieren. Bürgersteige können breiter und attraktiver werden und oberirdische Garagen können in andere Nutzungen umgewandelt werden. Zudem bieten bestehende Tiefgaragen neuen Platz für die Unterbringung von Fahrrädern oder Flächen für Logistik für die sogenannte letzte Meile. Wunderbare Aussichten für die Stadt!

 

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen, angesichts der Restriktionen durch Corona, neue Wege des Miteinanders, der Zusammenarbeit, der Selbstorganisation und Solidarität gehen. Können wir davon künftig womöglich ein Stück in die Arbeits- und Wirtschaftswelt mitnehmen? Weniger Ellenbogen und Armdrücken, mehr Kooperation und partnerschaftliches Miteinander – sowohl nach Innen als nach Außen? Den Maßstab Mensch wieder in den Mittelpunkt rücken?

Unsere europäische und christlich geprägte Kultur sollte den Menschen immer im Mittelpunkt haben. Allerdings haben wir uns in der Vergangenheit viel zu oft als Individuum und weniger als Gemeinschaft hervorgetan. In unserer Arbeitswelt ist der Druck immer höher geworden. Das hat auch mit der Digitalisierung zu tun. Sie hat die Geschwindigkeit, mit der wir reagieren wollen oder müssen, dramatisch erhöht. Es wäre schön, wenn wir die positiven Erfahrungen, die wir im Zuge der Entschleunigung in den letzten Wochen gemacht haben, auch nach der Krise im Gedächtnis behalten würden. Bei caspar. war und wird auch weiterhin der Mensch und seine Umwelt Maßstab und Motor der Arbeit sein.

 

Versäumnisse der Vergangenheit und die Kraft von Partikularinteressen bedrohen die Weiterentwicklung der deutschen Städte. Stephan Bone-Winkel, Gründer und heutiger Aufsichtsrat der Beos AG, meint zur aktuellen Stadtentwicklung: So führt ihr Weg an der Zukunft vorbei. Schon jetzt drohen »FailedCities« (immobilienmanager Ausgabe 3-20). Brauchen Architektur und Investoren nicht eine Rückbesinnung, die statt immer neuer Stararchitekturen lebendige Orte für Menschen schafft?

Ich sehe es nicht ganz so dramatisch. Aber ich sehe auch den schleichenden Identitätsverlust unserer Städte. Umso wichtiger ist es, dass sich jede Stadt über ihre eigene DNA bewusst wird und diese formulieren kann. Architektur muss aus dem Verständnis des Ortes und der Bedürfnisse der Menschen und nicht aus formalen Moden heraus entwickelt werden.