Bildquelle: Pixabay
In der Branche wächst die Hoffnung, dass der Umsatzeinbruch des Onlinehandels im vergangenen Jahr nur ein vorübergehendes Phänomen war. Nach Einschätzung von Branchenexperten dürften viele Onlinehändler in diesem Jahr von der Inflation profitieren: Die Deutschen wollen weiterhin konsumieren, schauen aber stärker aufs Geld. Da sei der Onlinehandel im Vorteil.
Es wäre ein Comeback nach einem schlechten Jahr. Zuletzt hatte sich selbst der Onlinehandelsverband BEVH keine Mühe mehr gegeben, die Lage der Branche schönzureden. „Etwaige Hoffnungen auf das Weihnachtsgeschäft können sich nicht bewahrheiten“, klagte Martin Groß-Albenhausen, stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim BEVH, im Dezember. Insbesondere bei Bekleidung und Unterhaltungselektronik, sonst die Stars vor Weihnachten, brachen die Verkäufe ein.
Zwei Jahre lang hatte zuvor der Onlinehandel Sonderkonjunktur, in der Pandemie wurden zweistellige Wachstumsraten zur Normalität. Der Aufschwung endete 2022, als im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Inflation und Energiekrise die Kaufkraft schmälerten. Selbst Branchenstars wie Zalando müssen um jeden Euro Umsatz kämpfen.
E-Commerce: Aldi will erstmals Lebensmittel online verkaufen
Alexander Graf, E-Commerce-Experte und CEO des Softwareanbieters Spryker, sieht etwa den Siegeszug des Onlinehandels nur gebremst, nicht gebrochen. „Der Onlinehandel hatte zuletzt ein Wachstumsjahr nach dem anderen“, erinnert er. Jetzt werde er zum ersten Mal konsolidiert: „Aber egal wie schlecht es läuft im E-Commerce – im stationären Handel läuft es schlechter.“
„Es gab zwei, drei, vier Monate in diesem Sommer, in denen der stationäre Handel überperformt hat, als die Menschen Nachhol-Shopping gemacht haben“, erläutert Graf. Danach sei es wegen der Inflation wieder nach unten gegangen. Strukturell habe der stationäre Handel wegen seiner höheren Kosten „in diesem Inflationsumfeld gegenüber dem Onlinehandel nur wenig Chancen“.
Nach Einschätzung der Experten dürften viele Onlinehändler dagegen in diesem Jahr sogar von der Inflation profitieren. Denn die Deutschen wollen weiterhin konsumieren, schauen aber stärker aufs Geld. „Entscheidender Vorteil ist, dass der E-Commerce weniger Personal benötigt, denn die Inflation ist ja auch an die Gehaltsspirale gebunden“, erklärt E-Commerce-Experte Graf. Sprich: Wer wenig Personal beschäftigt, kann günstigere Preise machen. Die Kunden dürften deshalb viele günstige Angebote in diesem Jahr im Netz finden.
Deswegen ist es kein Zufall, dass ausgerechnet der Discounter Aldi 2023 erstmals Lebensmittel online verkaufen und ausliefern will. In den Märkten erlebt Aldi bereits an den Umsatzzahlen, dass die Krise die Menschen zu preiswerten Anbietern treibt, und will das Onlinegeschäft nicht komplett Start-ups wie dem norwegischen Händler Oda überlassen, der in diesem Jahr in Deutschland startet.
Billighändler Shein aus China setzt die Trends im E-Commerce
Im Modehandel dagegen sehen Experten das größte Potenzial bei der chinesischen Plattform Shein. Die Chinesen haben mit ihrer Billigstmode großen Erfolg und tragen damit zur Krise vorher so erfolgreicher Konzepte wie Primark bei. Zahlen veröffentlicht das Unternehmen nicht, laut Branchenschätzungen könnte es aber in Deutschland bereits etwa zwei Milliarden Euro umsetzen.
„Die einstigen Innovatoren der E-Commerce-Branche wie Zalando, Otto, Amazon oder Asos sind heute nicht mehr in der Lage, Trends zu setzen und die jüngste Generation zu erreichen“, sagt E-Commerce-Experte Graf. Shein aber gelinge genau das.
Der Händler analysiere ständig Daten aus Verkäufen und Social Media und entwickle daraus neue Produkte. „Shein ist in der Lage, Ware innerhalb von drei Tagen von der Idee in den Shop zu bringen, sie in einer kleinen Menge zu testen und dann eine größere Order nachzulegen, wenn sie bei den Kunden ankommt“, erklärt Graf das Erfolgsrezept.
So hätte Shein nicht die Risiken der Vorfinanzierung und eines zu großen Warenbestands. „Damit können sie die Preise und die Sortimentsvielfalt von Zara oder H&M um Längen schlagen“, sagt der Experte. Er traut deshalb Shein in diesem Jahr schon einen Umsatz von dreieinhalb Milliarden Euro in Deutschland zu – und damit das aktuell wohl schnellste Wachstum im deutschen Onlinehandel.
Trotz der oft schlichten Qualität seiner günstigen Produkte schafft es Shein offenbar, seine Kundinnen und Kunden zu binden und zu weiteren Käufen zu animieren.
Jede Pleite in der Innenstadt treibt Kunden in den Onlinehandel
„Es gilt, die Kundenbindung zu steigern, sodass Leute wieder kaufen und ihre Kauffrequenz zunimmt“, rät entsprechend Florian Heinemann, Gründungspartner beim Wagniskapitalgeber Project A Ventures, der in zahlreiche junge E-Commerce-Unternehmen investiert hat.
Da in der Krise der Kostendruck zunehme, konzentrierten sich die Unternehmen stärker darauf, Bestandskunden zu neuen Bestellungen zu bewegen, anstatt viel Geld für die Neukundenwerbung auszugeben.
Zusätzlich profitiert der Onlinehandel von der Schwäche der stationären Händler. Jede Pleite in der Innenstadt treibe weitere Kunden in den E-Commerce, sagt Marcus Diekmann, Digitalberater und Beirat beim Händler Rose Bikes. Er schätzt, dass 2023 „Tausende weitere stationäre Läden schließen werden“. Der E-Commerce könne allein dadurch im laufenden Jahr um fünf Prozent wachsen. „Und dafür muss der Onlinehandel dann nicht mal etwas besser gemacht haben.“
Auch der frühere Ebay-Deutschland-Chef und Tom-Tailor-Vorstand Stefan Wenzel sieht die Kundenwanderung von Offline zu Online im Handel als ungebrochen. In manchen Kategorien betrage der Onlineanteil bereits 50 Prozent. Allein deshalb sei „eine Rückkehr zu mindestens einstelligen Wachstumsraten nicht unrealistisch“.
Handelsexperte Graf erwartet zugleich eine Auslese unter den Onlinehändlern. „Viele unprofitable Unternehmen werden aus dem Markt ausscheiden“, prognostiziert er. Starke Unternehmen dagegen hätten dieses Jahr gute Perspektiven, profitabler zu wachsen.
Das Comeback des Onlinehandels belegen auch die Suchanfragen auf der größten deutschen E-Commerce-Plattform Amazon. Das hat die Digitalagentur Finc3 ermittelt, die das Amazon-Marktplatzgeschäft vieler Markenhersteller betreut. Zwar sei der Traffic auf dem Marktplatz im vergangenen Jahr um sieben Prozent gesunken. Doch ab Juli gingen die Zahlen deutlich langsamer zurück, im Oktober beispielsweise sank der Traffic nur noch um zwei Prozent.
Inflation: Billig und Luxus läuft auch in der Krise
Für Dezember gibt es noch keine Zahlen. Laut Finc3 sei jedoch auffällig, dass einige Anbieter ihre Media-Budgets entgegen ihren Planungen erhöht hätten. Das spreche dafür, dass das Jahresende teilweise besser gelaufen sei als befürchtet.
Erfolgreich seien vor allem Händler, die das Einkaufserlebnis ihrer Kunden verbessern, sagt Investor Heinemann. Bei vielen Onlinehändlern jedoch sei die Beratungsqualität immer noch zu gering. Mithilfe von virtueller Realität könnten Produkte wie Möbel oder Mode besser präsentiert werden. Künstliche Intelligenz könne Content rund um die Produkte generieren und dem Kunden so zusätzliche Informationen für den Kauf geben.
„Das ganzheitliche Kundenerlebnis entscheidet über Erfolg oder Misserfolg“, sagt auch Fabian J. Fischer, CEO der Digitalberatung Etribes. „E-Commerce geht dann weit über den mit wenigen Klicks gefüllten Warenkorb hinaus und umfasst etwa Kundenbindungsangebote wie spezielle Communities oder auf bestimmte Zielgruppen abgestimmte Sortimente“, erklärt er.
Aus Sicht des Handelsexperten Stefan Wenzel schafft das nicht nur Shein mit seiner gezielten Sortimentspolitik, sondern auch gerade Luxusunternehmen wie LVMH. Also all jene Konzepte, die es verstünden, jenseits von Preisnachlässen die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin bei den Konsumentinnen und Konsumenten anzukurbeln: „Billig oder Luxus läuft immer, sagt man, und das gilt in Krisen umso mehr.“
Lesen Sie den Originalartikl hier.